Works
Choral Opera | 2009

Prosopopeia

02-2010
Zeremonielle Theatralität (DE)
Die italienische Komponistin Lucia Ronchetti wagt
für ein Auftragswerk der Kasseler Musiktage Unmögliches:
Die Evokation des Jenseits durch Musik
trotz der Unmöglichkeit, dem metaphysischen
Kreislauf zu entkommen.

Im Chiasmus zwischen "Theater der Rhetorik” und "Rhetorik des Theaters” verbirgt sich die "phantastische” Erfindung der Prosopopeia, des "Konzerts in Form einer Messe”, das Lucia Ronchetti auf der Basis der Musikalischen Exequien von Heinrich Schütz komponiert hat. Die Berufung auf die rhetorische Figur der Prosopopeia (die Tote sprechen lässt), verweist auf die Einschreibung dieses antiken Topos in eine untergründige "Dramaturgie des Wortes“. Das barocke Begräbnisritual, das den Hintergrund für diese "Studie über die Personifikation” bildet, enthält mit der Zurschaustellung des heiligen Körpers des Verstorbenen eine triumphierende, zeremonielle Theatralität, die Ronchetti mit ihrer "weltlichen Messe” in die Gegenwart transferiert.
Die Musikalischen Exequien, komponiert im Gedenken an den Grafen Heinrich Posthumus von Reuß, wurden am 4. Februar 1636 in der Johanniskirche von Gera aufgeführt, zwei Monate nach dem Tod des Auftraggebers und Widmungsträgers. Es ist jedoch so gut wie sicher, dass der Graf sowohl bei der Auswahl der Texte als auch bei der gesamten Gestaltung der Gedenkfeier mit dem Komponisten zusammengearbeitet hat. Vermutlich hatten die rhetorischen Topoi, die in seinem polyphonen Tonsatz verwendet werden, nicht so sehr die Funktion, die abstrakte und körperlose Erinnerung an den Verstorbenen zu evozieren, als seine "physische“ Präsenz zu manifestieren, damit sie im Gedächtnis der Gemeinschaft weiter bestehen konnte. Dass die Bahre während der Feier zwischen der Kanzel des Redners und der Versammlung der Gläubigen aufgestellt war, bestätigt die Hypothese, dass die Messe weniger eine Feierlichkeit "in absentia“ war als ein Ritual "in praesentia“, in dem der Redner ein Medium war, dem zugetraut wurde, die Worte des Verstorbenen aus dem Jenseits zurückzuholen. Die Evokation des Jenseits vollzog sich durch die spezielle Disposition der Stimmen innerhalb des Kirchenraums: Mit den Erfahrungen der "cori spezzati“, die er bei Giovanni Gabrieli kennengelernt hatte, positionierte Schütz einen kleinen Chor im Inneren der Krypta und erschuf damit die Illusion einer "unsichtbaren“ Stimme, die aus einem dunklen "Jenseits“ ertönte.
Es ist genau diese Idee der Pluralität von Räumen, die zur Entstehung des Stylus phantasticus der Prosopopeia geführt hat. Lucia Ronchetti arbeitet philologisch akkurat mit dem metaphorischen Raum des Wortes: Aus dem Rumpf des originalen Textes erwachsen zahlreiche Texte von Zeitgenossen (Donne, Tasso, Quevedo, Marvell, Crashaw), die – verbunden durch Schlüsselwörter (Himmel, Sünde, Zeit, Körper, Verklärung, Glück, Fleisch, Auferstehung …) – erstaunliche poetische Blüten treiben. Dabei verbleiben die Fragmente der polyphonen Vertonung von Schütz im Schatten des alten "stile severo“, die Textinterpolationen werden hingegen in einem modernen "stile florido“ vertont, bei dem homophone Deklamationen, pulverisierte Madrigalismen, eingefrorene Psalmodien und Kontrapunkte dissonanter Affekte verknüpft werden. Es ist diese Pluralität der Texte, die zur Pluralität der Klangräume führt.
Wie Schütz, so verwandelt auch Ronchetti die architektonische Hülle der Kirche in ein wunderbares Instrument, das vielfältige akustische Dimensionen ermöglicht: in Hintergrund aus engelhaften Klängen, erzeugt von unsichtbar bleibenden Stimmgruppen, umgeben von "wandernden“ Stimm- und Instrumentalklängen, die verschiedene Wege durch die Kirche zurücklegen.
Aus dieser Gesamtheit wellenartig vagierender Klänge trennen sich jedoch kurz vor dem Finale zwei Stimmen ab, denen eine dramaturgische Funktion und unmissverständliche Klangsymbolik zugedacht ist. Der Posaunist bewegt sich, gemeinsam mit einer Bassstimme, auf verschiedenen Wegen durch die Kirche und trägt dabei das Festgewand von Schütz selbst. Kurz darauf, angekündigt durch ein jubilierendes Trompetensolo, legt der Tubist im Dialog mit der ersten Tenorstimme das Leichenornat des verstorbenen Grafen an und wird zur Inkarnation der figürlichen und symbolischen Idee der Prosopopeia. Diese Begegnung führt zu einem eigentümlichen Diskant, in dem die Dedicatio, ein Text von Donne über die irdische und einer von Crashaw über die himmlische Liebe, verflochten sind. Daraus entspringt eine betrübte Reflexion über die Unmöglichkeit, dem metaphysischen Kreislauf zu entkommen, der "Living Death” und "Dying Life” verknüpft. Ein extremer Chiasmus, der in einem unerwarteten räumlichen und klanglichen Unisono gipfelt: die beiden "Heinriche” überführen den melodischen Bogen in die Linearität der Rezitation und stimmen die saturnische, agnostische Schluss-Meditatio von John Donne an: "Solitude is a torment wich is not threatened in hell itself.”


(Übersetzung: Christine Anderson)
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