Works
Choral Opera | 2009

Prosopopeia

01-2011
Vergegenwärtigung durch Musik
"Prosopopeia" Lucia Ronchettis abendfüllendes Werk für die Kasseler Musiktage, unternimmt den Versuch, mittels einer Durchwirkung der "Musikalischen Exequien" von Schütz mit neuen Elementen den alten Komponisten zum Leben zu erwecken. Der Autor untersucht das Stück und erkennt darin das Ritual eines Rituals und ein "Bildungstheater".

Die banale Realität des Todes wird geleugnet, die Unumkehrbarkeit von Zeit verworfen, eine Verwandlung von Materie in Nichts bestritten. Im barocken Begräbnisritual wird die physische Präsenz des Verstorbenen zelebriert – in dieser Theatralisierung des "heiligen Körpers" ist der Prozess des natürlichen Vergehens stillgestellt und im sakralisierten, Ewigkeit fixierenden Moment suspendiert. Die antike rhetorische Figur der Prosopopöie (ital. Prosopopoiea) lässt die Toten sprechen und hält sie als realen Schein einer scheinhaften Realität entgegen – Allegorien der prinzipiell illusionären Welt, die dialektisch im Bewusstsein einer prinzipiell realen Überwirklichkeit aufgehoben scheint. Von "Chiasmen" in Bewegung gehalten sind dergestalt das barocke Denken und seine ästhetisch-existentiellen Konzepte, und in dem Triumph der überspannten Gegensätze sehen sich Hinfälligkeit und Sterben symbolisch bezwungen.
Heinrich Schütz, der protestantische mitteldeutsche Musiker, Zeitgenosse des Dreißigjährigen Krieges und des vom Vanitas-Gedanken erfüllten Dichters Gryphius, war doch auch ein Mensch des Barock und Italienfahrer zudem. Allzu einseitig wurde er in den ersten zwei Dritteln des vergangenen Jahrhunderts (in Deutschland) reklamiert für eine kirchliche Ästhetik der künstlerischen Bescheidenheit, Dienstbarkeit und Demut (und damit sogar zum Antipoden J. S. Bachs und seiner quasi gottähnlich sich manifestierenden kompositorischen "Wissenschaft" stilisiert). Seine italienische Imprägnierung, seine durch die Barockkultur vermittelte Kenntnis antiker Topoi, ja, seine Komponenten von Katholizität – eben die Summe der reichen, von Gegensätzen befruchteten Erfahrungen eines auch der Oper zugewandten Künstlerlebens – kamen erst neuerlich wieder in den Blick. Die theatralische Durchdrungenheit der schützschen Musikalität scheint besonders kompatibel mit modernen (oder postmodernen) Auffassungen einer Theatralität, bei der sich verschiedene Künste begegnen und berühren, räumliche und zeitliche Strukturen sich ineinander verflechten. Es war reizvoll, mit einer kompositorischen Schütz-Auseinandersetzung eine italienische Komponistin zu betrauen, die sich in den vergangenen Jahren vielfach in den Grenzbezirken von Theater- und Konzertmusik bewegt hatte – die 1963 geborene Römerin Lucia Ronchetti, deren "dramatisches Oratorium" mit dem Titel Prosopopeia und dem Untertitel "A Study of Personification" als Auftragswerk von Musik an St. Martin zu den Kasseler Musiktagen im Oktober 2010 in der Martinskirche Kassel uraufgeführt wurde.¹
"Prosopopeia" bedeutet hier auch – so darf man spekulieren – die Vergegenwärtigung von Heinrich Schütz, seine Erweckung durch seine neu zum "Sprechen" gebrachte Musik. Gleichsam nachgestellt wird in der Aufführungssituation das Begräbnisritual, bei dem die Musikalischen Exequien am 4. Februar 1636 in der Johanniskirche von Gera erstmals gesungen wurden. Damals war der verstorbene Graf Heinrich Posthumus von Reuß Mittelpunkt der Feier, aufgebahrt zwischen der Kanzel des geistlichen Redners und der Versammlung der Gläubigen. In der Martinskirche und in Lucia Ronchettis präzis auf Raumdramaturgie insistierender Komposition ist die Vokalmusik von Schütz der "heilige Körper", dessen untote "physische" Präsenz eine geheimnisvolle Aura von musikalischer Ewigkeit um sich verbreitet. Diese Art von Magie scheint freilich weniger dazu angetan, mithilfe des ritualisierten Augenblicks Erinnerung zu verewigen. Eher geschieht etwas Umgekehrtes: Eine schon lange vertraute, gleichsam "ewige" Erinnerung aktualisiert sich. Überspitzt gesagt: Die Leibhaftigkeit der schützschen Musik verdinglicht sich zum "Sound", der sich als Macht des Gewohnten gegen alle Ingredienzien einer kompositorischen Kommentierung, Neuinterpretation, Zertrümmerung durchsetzt.
Chiasmus und Prosopopöie haben mithin ihre Tücken. Problematisch scheinen in Lucia Ronchettis Werk weniger eine "Katholisierung" der Schütz-Sphäre – die nachwagnersche Angst vor "kunstreligiöser" Überwältigung theologischer Gehalte ist derzeit sicher weniger aktuell; es mutet durchaus sinnvoll an, der evangelisch verabsolutierten Wirkungsmacht des "Wortes" auch ein bisschen zu misstrauen und die evokative Offenheit, Vieldeutigkeit nichtverbaler, im weitesten Sinne theaterhafter Elemente von "Wahrheit" zu konzedieren. Es kommt jedoch, gerade im künstlerisch Hervorgebrachten, auf die Kraft der subjektiven Auseinandersetzung mit dem Heiligen an. Und, bei aller Feinheit und Ausgewogenheit der im Sinne des Barock perfekt gegeneinander ausbalancierten dramaturgischen Komponenten: Lucia Ronchettis Arbeit verbleibt als idealtypisch restituierte Zeremonie doch zu sehr im Banne einer sozusagen postmodern synthetisierten neobarocken Zelebrität. Ritual eines Rituals, Ritual in zweiter Potenz, wenn man will: Bildungstheater.
Im Einzelnen stellt sich das alles sehr informiert und ambitioniert dar. Der Corpus der Schütz-Exequien wird im Wesentlichen unverändert chorisch oder vokalsolistisch präsentiert – ein wohlkonservierter, gut einbalsamierter "heiliger Körper". Einige theologische oder existenzielle "Reizwörter" (wie Himmel, Sünde, Not, verloren, verklären, Zeit, Leib, Fleisch, Heil, Todesfurcht) werden stichwortgebend für instrumentale "Attacken", die sie, die sonst in der klanglichen Verhüllung mehr oder weniger unauffällig wären, zu verstärken, zu hinterfragen, womöglich auch blasphemisch zu wenden, ad absurdum zu führen trachten. Einen weiteren Schritt der Distanzierung von den Schütz-Texturen bilden Gedichte aus verschiedenen Zeiten und in mehreren Sprachen (von Richard Crashaw, John Donne, Francisco de Quevedo, Andrew Marvell, Torquato Tasso). Beim Vortrag dieser Textanteile geht Lucia Ronchetti (sie war nicht umsonst Schülerin der französischen "Spektralisten" Gérard Grisey und Tristan Murail) mit avancierten Vokaltechniken um und lässt die Singenden in gleitenden Übergängen zum Sprechchor werden oder in nahezu aleatorische Phasen des Schreiens und der Geräuschentfaltung ausbrechen. Dabei kommt es zu raffinierten Korrespondenzen und Kontrasten mit und zu den Schützklängen. Diese setzen sich aber gerade in den Schlussstrecken des Werkes (dessen Ende unterzog die Komponistin noch kurz vor der Uraufführung einer Bearbeitung) zu einer gleichsam immer eindringlicheren Gegenwart Schützens durch die Motetten "Herr; wenn ich dich nur habe" und "Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren", obwohl es gleichzeitig eine Konterkarierung gibt durch zwei sich vereinzelnde und im Raum separierende Blechbläser, zugleich Textsprecher. Als ein Moment der agnostischen Relativierung mutet der vom Sprecher gleichsam nachgereichte John-Donne-Satz "Solitude is a torment which is not threatened in hell itself" zu schwach an; er kann die inzwischen kompositorisch generierte fromm-andächtige Stimmung nicht ernstlich stören. Der "Chiasmus" zwischen Mut und Zaghaftigkeit wird nicht ausgefahren, sondern bleibt harmonisierend in der Schwebe gehalten.
Die Wiedergabe mit dem hochprofessionell anmutenden Vocalensemble Kassel, dem instrumentalen Kammerensemble Neue Musik Berlin und den Gesangssolisten Hedwig Voss, Claudia von Hasselt (Sopran), Anja Schumacher (Alt), Manuel König, Stephan Hinssen (Tenor), Christian Palm und Sebastian Auer (Bass) war unter der Leitung des Dirigenten Eckhard Manz, der sich als Ratgeber hinsichtlich der Aufführungspraxis eingeschaltet hatte, aufs Eindrucksvollste gelungen und ließ keinerlei Wünsche offen.
Prosopopeia von Lucia Ronchetti gehört zu den Hybrid-Kompositionen, die ihr Formgesetz durch eine enge Symbiose mit älterer Musik gewinnen – inzwischen gibt es dafür viele Vorbilder, von Berios Sinfonia und Henzes Tristan über Zenders Winterreise bis zu diversen Schumann-Adaptationen von Killmayer, Holliger oder Widmann. Maßgebend für Lucia Ronchettis Stück ist aber nicht nur der Spagat zwischen der Vorlage und ihrer kommentierenden Vergegenwärtigung, sondern auch die gewissermaßen hinzuaddierten "Chiasmen" zwischen weltlich und geistlich, Theater- und Konzertform, hingebender Andacht und skeptischer Abwendung. Ganz gelingen kann derlei nicht. Lucia Ronchetti scheint allerdings versucht, mit der Geste einer souverän verfügenden Meisterschaft die Brüche einer solchen Anstrengung eher zu verdecken als sichtbar beziehungsweise hörbar werden zu lassen. Wenn man neben Prosopopeia ein Werk wie das War Requiem von Britten hält, dann ist dort, ungeachtet einer noch vergleichs-weise altväterlichen Kompositionstechnik, ein bedeutendes Mehr an bohrender, produktiver geistiger und "geistlicher" Widersprüchlichkeit merklich.

¹ s. den Bericht zu den Kasseler Musiktagen auf S. 80ff.

Hans-Klaus Jungheinrich (* 1938): Kirchenmusikerexamen in Frankfurt und Kapellmeisterdiplom in Darmstadt, von 1968 bis 2003 Feuilletonredakteur und Musikkritiker der Frankfurter Rundschau, zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt: Hudba – Annäherungen an die tschechische Musik (Kassel 2007), Hohes C und tiefe Liebe. 33 Versuche, (k)einen Opernführer zu schreiben (Salzburg 2010), und als Herausgeber Das Gedächtnis der Struktur. Über Pierre Boulez (Mainz 2010).
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