Works
Action concert pieces | 2013

Forward and downward, turning neither to the left nor to the right

06-06-2014
Forward and Downward
An den „Pièces de chair II“ erscheint die Struktur des Stückes an sich labyrinthisch und müssen sich die Interpreten einen Weg durch eine absichtsvoll verrätselt notierte Partitur bahnen. Lucia Ronchetti hingegen bezieht sich in ihrem „action concert piece“ auf ein mythisches Labyrinth: jenes, das der kretische König Minos für den Minotauros hatte bauen lassen, ein menschenfressendes Zwitterwesen, das einst der Verbindung von Minos’ Frau mit einem von Poseidon gesendeten Stier entsprungen war. Eigentlich hätte Minos den Stier des Poseidon opfern müssen. Da er das prachtvolle Tier aber behalten wollte, opferte er ein minderwertiges. Das wiederum provozierte den Zorn Poseidons, der zur Strafe Minos’ Frau mit der Leidenschaft für den Stier schlug. Zur Strecke gebracht wurde der Minotaurus erst durch den griechischen Helden Theseus. Die Athener waren zuvor von Minos in einem Feldzug besiegt worden und mussten seitdem alle neun Jahre sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen nach Kreta senden, die dem Minotaurus geopfert wurden. Als der Tribut ein drittes Mal zu entrichten war, begab sich Theseus unter die zum Opfer bestimmten jungen Menschen. Ariadne, Tochter des Minos und somit Halbschwester des Minotauros, verliebte sich in Theseus und gab ihm für den Gang ins Labyrinth den legendären Ariadnefaden, der ihm den Weg zurück weisen konnte. Theseus tötete den Minotauros und machte sich mitsamt den Jünglingen und Jungfrauen sowie Ariadne auf den Weg nach Athen. Auf der Fahrt aber liess er, der sich mittlerweile in eine andere verliebt hatte, Ariadne auf Naxos zurück.
Lucia Ronchettis Werk überträgt zentrale Momente des Mythos in klangliche und räumliche Konfigurationen. Sie bezieht sich dabei auf Plutarchs Version der Geschichte, der das Labyrinth als eines vorstellt, das sich nicht nur horizontal sondern auch in die Tiefe erstreckte. Die Instrumentalisten repräsentieren bestimmte Figuren und Elemente des Mythos: Die Cellistin verkörpert Ariadne, der Posaunist Theseus. Der Minotauros wird vom Bassflötisten, sekundiert von zwei Violaspielern imaginiert. Den Dirigenten könnte man mit Daedalus identifizieren, den Architekten des Labyrinths, der Ariadne mit wichtigen Hinweisen über dessen Konstruktion versah. Ein Kollektiv von perkussiv agierenden Musikern kreiert Klangräume und Schauplätze oder aber versinnbildlicht die Vielen – seien das Arbeiter, die Crew des Theseus oder Opfer des Minotaurus. Die Aktion entfaltet sich in drei Phasen. Deren erste ist überschrieben „Ariadne, the Minotaur’s halfsister“. Die Cellistin entrollt gleichsam einen Klangfaden in Gestalt einer rasend schnell vorzutragenden Monodie. Theseus begegnet ihr und wird für den Gang ins Labyrinth „instruiert“. Der zweite Abschnitt lässt Theseus’ Weg ins Labyrinth und zum Minotaurus nachvollziehen. Die Gruppe der Perkussionisten evoziert in einer Art klanglichem Ritual das Labyrinth. Die Sphäre des Minotaurus wird musikalisch durch eine Adaption aus der Rockmusik markiert. Die Verlautbarungen von Violen und Bassflöte basieren auf dem Led Zeppelin-Song „Whole Lotta Love“.
Der dritte Teil des Werkes gilt wieder Ariadne, die nunmehr von Theseus verlassen wurde und auf der Insel Naxos zurückgeblieben ist. Auch hier bezieht Lucia Ronchetti schon vorhandene Musik ein: die Klage der Ariadne aus „L’Arianna“, der zweiten Oper von Claudio Monteverdi. Dieses Lamento ist der einzige Teil der Oper, der erhalten geblieben ist, vor allem, weil er später vom Komponisten als eigenständiges Werk publiziert wurde. Zudem transformierte Monteverdi die Ariadne-Klage zu einem fünfstimmigen Madrigal, das 1614 im Sechsten Madrigalbuch erschien. Sehr viel später unterlegte er der Musik einen geistlichen Text und veröffentlichte sie 1640 als „Pieta della Madonna“ in der Sammlung „Selva morale e spirituale“. Die Adaption durch Lucia Ronchetti bezieht sich auf die späten, polyphonen Versionen des Lamentos und integriert sie als Elemente, die aus einer nicht mehr vorhandenen Oper hervorgegangen sind, in eine neue musikalisch theatralische Version des uralten Stoffes.

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