Texts
12-21-2004
Uraufführung einer Salome-Oper von Lucia Ronchetti in Stuttgart
Gewisse Mythen lassen den Künstlern keine Ruhe. Die Ursprungslegende der Musik als höherer Kunst, die Fabel von Orpheus und Eurydike also, gehört zu diesem ruhelosen Kontingent. Offensichtlich auch der Bericht vom Ende des Wüstenpredigers und Täufers Johannes, den der Vierfürst Herodes auf Betreiben seiner Gattin Herodias und auf Veranlassung der (in den Evangelien des Neuen Testaments noch namenlosen) Stieftochter in der Haft ermorden ließ. Nachdem die als Katalysator eingesetzte junge Schöne im Mittelalter mit dem Namen Salome bedacht und dann oftmals gemalt worden war, leuchtete Oscar Wilde mit Lust an Décadance die seelischen Abgründe der Verführerin aus (die Tragödie der Salome inspirierte Richard Strauss zu seiner wohl fulminantesten Partitur). Aus "postfeministischer Sicht" näherte sich die Germanistin Tina Hartmann der Geschichte der Salome noch einmal: sie radierte und reduzierte – und hat auf diese Weise "zentrale Topoi" des Begehrens und des unerfüllten Wartens herausgeschält. Die italienische Komponistin Lucia Ronchetti, Schülerin des in Stuttgart besonders geförderten Salvatore Sciarrino, setzte eine der kargen Wörterfolie angemessene Vokalkammermusik hinzu – sparsam in der Besetzung, reich in den Optionen und Kombinationen, die den theatralen Einsatz von Stimme noch einmal ausloten. Die trappelnde Ungeduld geiler Männer beispielsweise: atemloses Verlangen, hartnäckig auf der Stelle tretend:

Salome ist nicht zu Haus. Ein älterer Herr mit Geschenkpaket – Herodes – und ein falsettierender jüngerer Mann vom Typ des Offiziers Narraboth sowie ein Knabe dringen durch die hermetische Vorhangwand in den Bühnenraum, der das Innere der Lebenswelt einer Prinzessin verschließt. Rufe nach Salome schälen sich aus dem sehnsüchtigen Raunen. Aber sie zeigt sich fürs erste nicht – und auch später nicht wirklich. Die Librettistin Hartmann über die drei Typen, die und deren reduzierte Aktionen sie entwarf:

Sie alle haben Fantasien von Salome, Phantasmagorien, die sich sukzessive im Verlauf des Stückes ausspinnen, ein Eigenleben entfalten und die Handlung an sich reißen.

Der junge Berliner Regisseur Michael von zur Mühlen lässt einen blinden Bratscher – Luca Sanzó – und die drei singenden Akteure Daniel Gloger, Andreas Fischer und Darius Paul-Knecht auf Salome-Spurensuche gehen. Aus dem alten schwarzen Telefon kommen ihnen ein paar musikalische Fingerzeige zu. Auf einem in der Höhe schräg aufgehängten Quadrat aus lauter Glühbirnen meldet sich das Gesicht des Jochanaan wie von einer allzu grob gerasterten Mattscheibe (allerdings mit der Stimme des Herodes). Unterm Sofa, das Bühnenbildner Sebastian Hannak aus lauter Plüschtieren fügte, ein riesiger feuchter Fleck. Mehrdeutig. Aber es sieht doch so aus, als habe sich dort jemand verblutet. Und so ist es ganz konsequent, dass, nachdem das theatralische Warten ausgereizt wurde und Narraboth, der junge Syrer, durch Suizid aus dem Rennen um das Objekt der allgemeinen Begierde ausschied, der Kopf des entleibten Counters plötzlich aus dem Geschenk-Karton glotzt und den Gesang des Verlangens forttreibt. Im Hintergrund geht ein enthauptetes Wesen auf und ab – der Knaben, der Page in einem Kleid der vielleicht schon getöteten Prinzessin.
Das ist eine Umdeutung oder Verschiebung des Salome-Mythos! meint der Regisseur.
Die Frage: ein alternder Mann und eine jüngere Frau bleibt durchaus aktuell unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen.
Michael von zur Mühlen zeigt die freie Übertragung konsequent, spannend und so kurzweilig, dass es – was bei Kunst über Kunst dieses Typs gewiss nicht immer der Fall ist – leicht fällt, sich auf die Logik und die ästhetischen Bahnen der Fortschreibung und Travestie von Historischem einzulassen. Zur Goutierbarkeit tragen freilich auch Lucia Ronchettis Anklänge an die Madrigalkünste des späten 16. Jahrhunderts bei.
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