Texts
06-2008
Lucia Ronchetti
„Anatra al Sal“? Was bitte, werden Sie fragen, hat Ente mit Salz mit zeitgenössischer Musik zu tun? Die Rede ist von einem der vergnüglichsten musikalischen Werke, das in den letzten Jahren zu hören war, Humor ist ja leider nicht eben häufig in der zeitgenössischen Musik. Komponiert wurde diese hochvirtuose Kochshow für sechs Stimmen von einer Frau, einer Italienerin natürlich. Sie ließ sich nicht nur von dem Entenrezept  und dem theatralisch ausgetragenen Streit um die richtige Soße inspirieren, sondern auch von der Tradition des madrigale rappresentativo, wie es im Italien des 16. Jahrhundert gepflegt wurde.  Fünfstimmig und mit Texten, die jeweils auf einem einzigen Vokal beruhen, wird der Streit um die richtige Soße ausgetragen, die Sänger müssen Vokale kauen und Konsonanten spucken, schmatzen und rülpsen, das es eine Freude ist. Das Stück ist inzwischen zu einem Dauerbrenner im Repertoire der Neuen Vokalsolisten Stuttgart geworden, mit denen Lucia Ronchetti besonders gern zusammenarbeitet. Sie hat für dieses Ensemble bereits mehrere Werke geschrieben hat, darunter auch „Pinocchio, una storia parallela“ für vier Männerstimmen. Dieses Stück, während einer einjährigen Residency auf Einladung des DAAD in Berlin entstanden, ist das tragisch-komische Gegenstück zu „Anatra al Sal“ – auch hier entsteht die starke theatralische Wirkung ohne Szene, ganz aus der Agogik und rhetorischen Behandlung der Singstimmen. Ihr „Pinocchio“ basiert auf der Adaption des Collodi-Stoffes von Giorgio Manganelli, die zwar den Plot der Geschichte unangetastet lässt, aber mit abrupten Szenenwechseln und verschachtelten Rollen spielt, was per se eine starke theatrale Komponente hat.
Im Jahr 2006 gewann sie die erste Ausschreibung des NRW-Fonds' "Experimentelles Musiktheater“, eine Initiative zur Förderung zeitgenössischer Musiktheaterproduktionen, die das Wechselverhältnis von Sprache, Musik und Raum neu befragen und experimentell erkunden. In einem mehrmonatigen, kollektiven Entwicklungsprozeß entstand mit „Der Sonne entgegen“ ihre zweite Kammeroper, eine experimentelle Exkursion zum Thema Entwurzelung und Migration, in der Simultanität zum Sinnbild einer umfassenden gesellschaftlichen Krise wird. Ronchetti arbeitet mit 14 Sängern, einem begrenzten Instrumentarium und Elektronik. Vor allem den Gesangssolisten verlangt die Komponistin Höchstleistungen ab: verlangt werden vielstimmiger a-capella- Gesang ebenso wie hochvirtuose zeitgenössische Vokaltechniken.
Auch wenn der lustvolle, experimentelle Umgang mit musiktheatralischen Formen in den letzten Jahren im Mittelpunkt ihres Interesses steht, umfasst Ronchettis umfangreiches Werkverzeichnis doch alle musikalischen Genres, vom Solostück über die Kammermusik bis hin zu Orchesterwerken, aber auch Hörstücke für das Radio. Immer jedoch benutzt sie elektroakustische Mittel. Das handwerkliche Rüstzeug für einen souveränen Umgang mit der Elektronik hat sie während eines einjährigen Studienaufenthaltes am IRCAM in Paris erworben, nach Abschluß ihres Studiums bei Gérard Grisey und einem Doktorat an der Sorbonne. Zuvor hatte sie in Rom bei Salvatore Sciarrino studiert und auch Kurse bei Sylvano Busotti besucht.
Lucia Ronchetti ist von einer unstillbaren Neugier nach Neuem getrieben, ständig auf der Suche nach bisher Ungesehenem und Ungehörtem. Als enorme Bereicherung empfindet sie, dank mehrerer Stipendien die Möglichkeit gehabt zu haben, in verschiedenen Ländern zu leben, neben Frankreich etwa in den USA und immer wieder in Deutschland. Hier, in Berlin, das sie als einen idealen Ort zum künstlerischen Arbeiten empfindet, hat sie inzwischen ihren zweiten Wohnsitz und kommt so oft, wie es ihre Verpflichtungen in Salerno, wo sie am Konservatorium Tonsatz und Kontrapunkt unterrichtet, zulassen.
Als sie im Februar 2008 nach Johannesburg geht, kommt sie – obwohl noch nie dort gewesen – in eine vertraute Stadt. Bei einem Aufenthalt in der Akademie Schloss Solitude hatte sie den südafrikanischen Autor Ivan Vladislavic kennengelernt. Aus seinen Erzähungen und seinen Romanen hatte sie bereits ein fiktives Bild von dieser Metropole, das sie bei ihrer Ankunft zunächst bestätigt findet: eine monströse, verschmutzte, parasitäre, laute, multikulturelle und gewalttätige Stadt. Die Überraschung sind die Menschen, die sie trifft - wunderbare, kommunikative Menschen, Träumer, Idealisten, die es schaffen, in diesem extremen Umfeld ihre Fröhlichkeit zu bewahren und an die Zukunft glauben. Kaum angekommen, nimmt sie Kontakt zu zahlreichen Künstlern auf, um mit deren Hilfe die Mega-City zu erkunden. Sie engagiert zwei einheimische Tontechniker und eine Anthropologin , die ihr helfen, verschiedenste Klänge der Stadt aufzunehmen, und – weil sie farbig sind – ihr ermöglichen, in Bereiche vorzudringen, die einem weissen Ausländer sonst niemals zugänglich wären. Lucia Ronchetti liebt das Abenteuer und verfügt über eine scheinbar unerschöpfliche Energie. Mit dem, was sie in Johannesburg gesehen, gehört und erlebt hat, könnte sie Bücher füllen. Zurück in Rom, arbeitet sie an ihrem Projekt, elf Fragmenten für Stimme und Ensemble; gleichzeitig werden in Johannesburg Aufnahmen mit einem südafrikanischen Schauspieler gemacht, die sie in diesem Werk verwenden will. Betreut werden diese Aufnahmen von Minky Schlesinger, der Frau von Vladislavic, dem sie den ersten Kontakt mit der Stadt verdankt.
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