Texts on Lucia Ronchetti
02-06-2014
Laudatio for the Heidelberger Künstlerinnenpreis
Liebe Lucia Ronchetti, verehrte Anwesende,
  über zwei Phänomene des Kulturbetriebs läßt sich schier endlos debattieren: über Wettbewerbe und  Preise – zumal beide nicht selten zusammengehören. Das globale Concours-System mag als Ansporn, Ehrgeiz-Motivation und Karriere-Schub seinen Sinn, manchmal sogar eine gewisse Filter-Funktion haben; doch ob es insgesamt segensreich wirkt, ist höchst zweifelhaft. Preise zudem gehen in der Regel ebenfalls aus quasi Konkurrenz-Situationen hervor – und sei es, dass eine Jury aus einem Kandidaten-Pool ihre Wahl trifft. Wobei das Prominenz-Prinzip oft eine erhebliche Rolle spielt: am eklatantesten bei dem extrem hoch dotierten Münchner Preis der Siemens-Stiftung. Sieht man sich die Liste der Laureaten seit 1974 durch, so gemahnt sie an ein „Who is Who“ der international berühmtesten Komponisten und Interpreten – in erster Linie also „Große alte Männer“, künstlerische Würdenträger -  dies immerhin  im oft sogar besten Sinn.  Mögen in den letzten Jahren auch sogar Avantgarde-Ensembles oder Musikwissenschaftler dazugekommen sein, so blieb es doch bei der Männer-Dominanz. Die einzige Ausnahme war bislang: ausgerechnet die Star-Geigerin Anne-Sophie Mutter.
   So sehr mir nicht wenige der Auserwählten sogar außerordentlich  nahestehen:  Das dahinter stehende Musik-Bild ist anachronistisch verzerrt, weil allzu einseitig auf gewiss überaus verdiente und in jeder Hinsicht allerbestens positionierte Senioren fokussiert. Ein Panorama, in dem Außenseiter, Jüngere und vor allem Frauen nicht vorkommen: eher eine Art Alt-Herren-Club.
  Eine überaus erfreuliche Gegenposition hierzu nimmt der Heidelberger Komponistinnen-Preis ein. Und dies nicht nur der rühmenswerten Initiative an sich wegen, sondern auch, weil er schon lange nicht mehr isoliert dasteht. Denn der Blick in Konzert-, Theater- oder Festival-Programme entdeckt zunehmend Werke von Komponistinnen, gewiss noch immer unterrepräsentiert, gleichwohl stetig manifester. Zumindest die töricht biologistischen Argumente etwa von Brahms oder Richard Strauss wider weibliche Kreativität, sind schon lange so absurd,  wie sie übrigens von Anfang an waren. Und sogar die Kompositionsklassen an den  Hochschulen werden mehr und mehr von Komponistinnen geleitet.
  So hat der Heidelberger Künstlerinnenpreis die Chance der Offenheit in vielerlei Richtung, er ist nicht an Alters-, National-, Stil-, Schul- oder Genre-Grenzen gebunden. Dieser geradezu interkontinental utopisch weite Fächer bringt denn auch das Glück, sich von mancherlei Stereotypen fernhalten zu können. Wenn nun die Italienerin Lucia Ronchetti, 1963 in Rom geboren, diese Auszeichnung erhält, so stellt sich zwar  reflexhaft die Frage nach einer wie auch immer gearteten „Italianitá“, doch sie verstummt sogleich in Anbetracht der Heterogenität ihrer  ästhetischen Strategien. Könnte man im Hinblick etwa auf die Kriterien der Siemens-Preis-Vergabe eine gewisse, natürlich auch altersbedingte Monolithik voraussetzen, so erweist sich Lucia Ronchettis Komponieren als eher multiperspektivisch. Das heißt: Es gliedert sich in verschiedene Stränge, die selbstverständlich untereinander verbunden sind, aber in unterschiedliche Richtung weisen: ein facettenreicher Personalstil.  Dennoch: Gibt es eine italienische Komponente? Gibt es die überhaupt? Ja, gab es sie, zumindest so ausgeprägt, wie nach wie vor gerne behauptet. Will man etwa einen deutschen und einen italienischen Komponisten gegeneinander stellen, so böten sich Brahms und Verdi an. Auf die kalendarisch naheliegende, zur Genüge strapazierte, Parallele Wagner-Verdi verzichte ich bewusst, allein der Musiktheater-Gemeinsamkeit wegen. Doch Verdi steht exemplarisch für die italienisch-französische Oper, Brahms für die sogenannte absolute Instrumentalmusik; und seine Vokalwerke basieren ausschließlich auf deutschen Texten. Während in der Musik seit 1950 nationale Eigentümlichkeiten immer schwerer zu fixieren sind, mögen sie auch unterschwellig noch mitschwingen. Luigi Nono zum Beispiel: Die Mehrchörigkeit von San Marco hat seine Raumklang-Vision befördert, auch die Vorliebe für die hohe Frauenstimme hat ihre Tradition. Aber als, gar typisch italienisch kann man seine Musik kaum bezeichnen. Der Darmstädter Serialismus, die Elektronik, das linke Engagement waren übernational. In einem Punkt allenfalls knüpft Lucia Ronchetti an zwei höchst heterogene italienische Komponisten an: den geheimnisvollen Giacinto Scelsi und eben Nono – und zwar in der Tendenz, den Klang, ja Einzelton im Inneren zu erforschen und spektral aufzufächern. Und einen weiteren italienischen Komponisten, weitaus populärer, und vor allem den Film-Interessierten vertraut, oft ohne, dass sie dessen Namen je gehört hätten, sollte man nicht Ennio Morricone. Mit seinem Soundtrack zu Sergio Leones Italowestern-Klassiker „Spiel mir das Lied vom Tod“ hat er nicht nur an der Kino-Geschichte mitgeschrieben: Der spektral erweiterte Mundharmonika-Klang des Beginns ist zur tönenden Signatur des gesamten Genres geworden.
  

An geregt zu diesen Sonoritäts-Erkundungen wurde Lucia Ronchetti indes durch ihr Studium in Paris bei Gérard Grisey, einer Stifterfigur des „Spektralismus“. Auch wenn ihr Orchesterstück „Déclive-Étude“, das sie vorhin gehört haben, nicht unbedingt dem Spektralismus zugeschlagen werden kann, so gibt es immerhin Verlängerungslinien. Schon der Titel, zu deutsch etwa „Abstiegs-Studie“, verweist auf einen fast naturwissenschaftlich experimentellen Ansatz, mit hüllkurvenartigen pianissimo-Tremoli  und fast stationär auf und ab gleitenden, nicht selten chromatischen, auch glissandierenden Linien. Auch wenn im weiteren Verlauf der Duktus lebhafter, ja virtuoser wird, figurative Elemente, selbst perkussive Raster hinzukommen, dominiert der Charakter der klanglichen Introspektion abseits ausladender harmonischer Prozesse. Der Untertitel Berceuse hat da seinen guten Sinn: Man ahnt zumindest einen geheim wiegenden Grundpuls, doch die Kolorierung ist wichtiger. Spektral ist sie insofern, als die obligate Frage nach tonal oder atonal an kategorischer Triftigkeit verliert, stattdessen eher ein Drittes hervortritt. Wenn es ein Vorbild gäbe, so wäre  dies allenfalls Chopins Berceuse, in der auf unvergleichliche Weise das Oberton-Potenzial der Dauer-Tonart Des-Dur in allen Farben zerstäubt erscheint.
   Wenn es eine italienische Tradition bei Lucia Ronchetti gibt, so taucht sie am ehesten im Bereich der vokalen Theatralik auf – nach Art der manieristisch bedeutungsschillernden Madrigale vor allem Carlo Gesualdos, aber auch der Madrigal-Komödie, bei der hochartifizielle musikalische Lyrik mit Bühnen-Vitalität verbunden erscheint. Allerdings ohne darüber in, gar je plakativen, Buffa-Realismus zu verfallen. Lucia Ronchettis Textvertonungen, in vielfältig gebrochener Weise an den Sujets des spanischen „Maler-Fürsten“ Velazquenz, der allbekannten „Pinocchio“-Geschichte, auch „Hamlet“ orientiert, bieten weder literatur-opernhafte oder auch nur semantische Wort-Ausdeutungen noch konkrete Handlungs-Elemente, sondern machen die vokale Klang-Produktion selber zur irritierend vielgestaltigen Szenerie – in der Burleskes und  Hermetisches sich durchdringen.
   Am vielgeschmähten „Elfenbein-Turm“ allerdings liegt Lucia Ronchetti nicht, die sich lieber mit ihren kompositorischen Mitteln auf auch gesellschaftliche Wirklichkeits-Suche begibt. Der prekären Situation der Migranten wie der mitunter bedrohlichen Unüberschaubarkeit von Johannesburg begegnet sie mit komplexen Mixturen aus Artifiziellem als auch tönenden Traditions- wie Realitäts-Partikeln. Da scheint sie auf einem Weg, oszillierend zwischen historischen Allusionen und Zukünftigem, von dem noch offen ist, wohin er noch führen mag. Spannend dürfte er auf jeden Fall sein und bleiben.
   Liebe Lucia Ronchetti, ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zu diesem schönen und wertvollen Preis – und bedanke mich bei Ihnen allen fürs geduldige Zuhören.