Interviews
02-2011
Interview with Arno Lücker (DE)
A.L. - Ihr neues Musiktheaterwerk Lezioni di tenebra bezieht sich auf Francesco Cavallis berühmte Oper Il Giasone. Wie ist die Idee für dieses Projekt entstanden?

L.R.-Il Giasone ist eine der interessantesten italienischen Opern überhaupt, und sie zählt seit jeher zu den Stücken, die ich am gründlichsten analysiert habe. In dieser Partitur wird das "Drama" vor allem durch auskomponierte musikalische Konflikte dargestellt. Die dramaturgische Idee basiert auf dem Kontrapunkt zwischen den verschiedenen Vokalstilen, die die einzelnen radikal gegensätzlichen Opern-Charaktere genau definieren. Nicht die Musik ist hier die "Illustration" einer Geschichte, sondern umgekehrt: Die Geschichte, die hier erzählt wird, die fabula, erscheint als Hintergrund der musikalischen Darstellung.

Auch im Text Cicogninis geht es eher um die Austragung eines Konzepts als um die Erzählung einer Handlung: Es geht um die freiwillige Blindheit der Hauptpersonen Giasone und Medea. Ihre Treffen im Dunkeln, bei denen sie sich nicht erkennen, stellen die einzige Chance dar, ihre Liebe wirklich zu leben – angesichts der Blindheit der Menschen und der Dunkelheit des Schicksals, das auf sie wartet.
Der dramatische Epilog zeugt von dieser Lektion der Finsternis: Es ist eine Lektion über die Undurchsichtigkeit der Kommunikation, insbesondere zwischen zwei Menschen, die sich lieben.

A.L. - Warum glauben Sie, dass eine Oper aus dem Jahr 1649 in einem Kontext Neuer Musik interessant sein könnte?

L.R.-Ich glaube, dass in der barocken Oper die Experimentierfreudigkeit und -freiheit – in Bezug auf die Stimmbehandlung und die Erweiterung der Theatralität durch die Musik – eine wahre Fundgrube sind.

Cavalli hat die Hauptcharaktere seiner Oper durch einen besonderen Vokalstil, eine eigene Kommunikationsrhythmik und bestimmte harmonische Sequenzen individuell herausgearbeitet.
Das Ergebnis ist ein an Klangfarben unglaublich reiches Musiktheater, das voller genial ausgeformter und extremer Kompositionsideen steckt, die die Handlung erhellen. Jede Figur ist eine Art Klangskulptur, die trotz der labyrinthischen Verworrenheit der Geschehnisse jederzeit gut wieder zu erkennen ist.

Im Libretto Cicogninis agiert jeder einzelne Charakter unter dem Eindruck einer unterschiedlichen Form von Blindheit und hat dabei stets Zweifel, die anderen oder sogar sich selbst wieder zu erkennen. Die Musik von Cavalli hingegen identifiziert diesen Charakter und hält ihn fest.

Auch die zeitliche Gestaltung ist das Ergebnis einer Beziehung zwischen Text und Musik. Gegen das Libretto Cicogninis, das voller Zeitsprünge steckt und die mythologische Vergangenheit sowie die ungewisse Zukunft aussondiert, setzt Cavalli eine Musik der absoluten Gegenwart. Wir haben es hier mit sensiblen Klangskulpturen zu tun, die dazu tendieren, die Figuren in der Gegenwärtigkeit des Augenblicks, in dem sie sprechen oder fühlen, abzubilden.
Diese "komponierte Gegenwart" neutralisiert die Handlung und verstärkt die Bühnenpräsenz eines jeden Charakters.
Die Komposition, das Opus compositum, bestimmt die Handlung, die fabula. Das ist schon ein seltenes Wunder in der Operngeschichte!

A.L. - Künnen Sie beschreiben, wie Sie mit der Vorlage von Cavalli umgegagen sind?

L.R.-Alle Hauptcharaktere der Oper werden nur durch zwei Sänger verkörpert, unabhängig von ihrem Geschlecht. Der Countertenor interpretiert die empfindsamen und fragilen Rollen: Giasone, Isifile und Oreste. Die Sopranistin dagegen die aufbrausenden, stolzen und buffonesken Protagonisten: Medea, Egeo und Demo.

Die Reduzierung der gesamten Besetzung auf zwei Stimmen unterstreicht in der Dunkelheit der Inszenierung das dramatische Spiel der Kommunikationslosigkeit, des Unverständnisses und der zweifelhaften Suche der unterschiedlichen Charaktere. Es ist eine Galaxie von Stimmen und Ereignissen, Zweifeln, Betrügereien, Erwartungen und Hoffnungen, die in der Spannung eines Duos zusammengefasst werden.

Ich betrachte meine Revision als kompositorische Analyse, die das Geschick Cavallis untersucht, widerstreitende Gefühle in den "Concertati" durch extrem kontrastierendes Material auszudrücken.

Die Simultaneität des Heterogenen, die Pluralität, die Diskontinuität der verschiedenen kompositorischen Ideen ist auch dann noch vorhanden, wenn einer der Charaktere allein ist.
Die Abfolge von kurzen und kontrastierenden Arien erzeugt eine Art von Unoordnung im Hörer und diese Unordnung wird Teil des Musiktheaters, passend zu einem Libretto, in dem es um die Unmöglichkeit des Miteinander - Kommunizierens geht.

Ich habe aus der Cavalli-Oper – in Hinblick auf das fatale Unverständnis zwischen den beiden Protagonisten – die herausstechendsten Teile genommen und ich habe das Klangszenario, das von der Musik Cavallis und vom Text Cicogninis evoziert wird, gewissermaßen "rekomponiert“.
Wenn es eine Verbindung zwischen dem Laut eines Wortes und seiner Bedeutung gibt, dann haben Cicognini und Cavalli diese Vision umgesetzt, indem sie eine maximale Homogenität zwischen Rhythmus und Klangfarbe geschaffen haben, so dass der Klang jedes Wortes der Bedeutung sehr nahe kommt. Das Wort wird der konzeptionelle Motor, der die Melodie generiert und bestimmt.

Bei den Verzögerungen, Wartepausen und Schnitten, die ich dem Original auferlegt habe, habe ich mich an der von Cavalli und Cicognini dargestellten "Vertikalität" inspiriert. Von den Göttern fällt man tief auf die Erde, in die Finsternis des Untergrunds und in die Tiefe des Meeres (Medea, Demo und Egeo sprechen gut dreimal aus den Fluten heraus, ohne gesehen zu werden) "per l'incognite vie del basso mondo, nell'incerto oscurissimo cammino" sagt Cicognini.

A.L. - Wenn Sie ein musiktheatralisches Werk schreiben, haben Sie dann schon bestimmte Bilder im Kopf, was Bühne, Szene, Licht angeht?

L.R.-Die Bildebene eines Werkes ist etwas, was während der Arbeit an einer Komposition sehr langsam wächst. Ich gehe dabei wie eine Blinde "tastend“ vor, die erst durch das Sich-Vorstellen von Noten, durch das Bannen von Noten auf das Papier sehen kann, was auf der Bühne möglich sein könnte.
Das war auch ein Grund, warum ich stets die Arie von Giasone: "Toccar con gl'occhi e rimirar col tatto" mit dem daraus abgeleiteten Konzept von aktiver Blindheit sehr bewundert habe.
Beim Komponieren versuche ich, rein musikalisch eine Landschaft zu entwerfen und hoffe dabei, dass der Regisseur den umgekehrten Weg einschlägt, indem er sozusagen aus den Klängen, aus meiner Partitur heraus die visuell wahrnehmbaren Facetten in Szene setzt.
Bei Lezioni di tenebra wird dieses Vorgehen sogar noch schwieriger, da ja die Handlung auf der Unmöglichkeit beruht, die Wirklichkeit zu sehen.
Alles geschieht in Form einer teoscopia (man schaut hinter einer Mauer hervor), einem Hilfsmittel der barocken Oper, um das zu erzählen, was auf der Bühne nicht zu sehen ist.
Die Bühnenpräsenz der Figuren stimmt daher niemals mit ihrer absoluten Präsenz überein. Jede Erscheinung ist meditativ. Die Charaktere sind Geister ihrer selbst. Hier ist der Regisseur aufgerufen, das Unsichtbare darzustellen.