Texts by Lucia Ronchetti
04-2007
Albertine, der Klang eines verbalen Universums (DE)

Albertine ist ein kurzes szenisches Stück für Solo-Frauenstimme und flüsternde Männerstimmen nach Marcel Prousts Albertine Disparue. Sujet ist das unmögliche Gespräch zwischen der erzählenden Stimme (männlichen Sprechstimmen, die aus dem Publikum kommen) und Albertine (der gesungenen Solo-Frauenstimme). Das Weggehen Albertines, zwei Phasen folgend (Flucht und Tod) unterbricht nicht den virtuellen, kryptischen Dialog: Die sie Überlebenden und Zeugen geben den flüchtigen Spuren Albertines neues Leben und neue Bedeutung. Sie berichten dem Mann von einem Treffen zwischen Albertine und einer jungen Wäscherin; uns wird ermöglicht, seinen wachsenden Schmerz zu analysieren. Das Konzept der obsessiven Eifersucht, von Proust im Roman beschrieben, fällt zusammen mit der nicht entschlüsselbaren Figur der Albertine. Die "in absentia" entwickelte Eifersucht wird zu einem schwarzen Loch, von dem der Plot bis zum Ende angezogen und aufgesogen wird, ohne Lösung.

Das Bild Albertines entsteht für den Leser nach und nach aus einer Serie intimer Berichte, Erinnerungen und Gedanken: Ihre Identität ist ein Resonanzraum, der von unserer persönlichen Vorstellung gefüllt werden muss, ein Raum, der nur durch Widerhall wahrgenommen werden kann.

Abgesehen von dem sehr einfachen Plot ist das von Proust beschriebene Universum in erster Linie verbal, komplett abgeschnitten von jeglicher durch Handlungen in Raum und Zeit geformter Realität, eine Art Sprachuntersuchung in der die Worte selbst zu Figuren werden und anscheinend über ihre eigenen kleinen Abenteuer, Schicksale und Geschichten verfügen. Oft gerät die erzählende Stimme in eine Falle: durch linguistische Unfälle, durch surreale Kämpfe, durch Auseinandersetzungen kreuz und quer zwischen den Worten.

Der Name "Albertine" hat selbst eine lange Geschichte, die man in Prousts Vorbereitungsskizzen nachvollziehen kann; die Metamorphosen und Ausarbeitungen zu dem Namen bilden eine Art parallelen Roman, den man kaum von dieser Geschichte trennen kann. Die Figur der Albertine ist grundlegend beeinflusst von der "Klangphänomenologie" des Namens: ein starker, tiefer, offener Teil am Anfang (Albert-), voller Erinnerungen und Echos (Prousts erste fiktionale Liebe, Gilberte, und sein letzter realer Liebhaber, Alfred, der wie Albertine durch einen Unfall ums Leben kam) und eine zarte weibliche Endung, klanglich höher (-ine), die dem Namen seine weibliche Prägung verleiht – in einem kurzen Atemhauch verschwindet Albertine. Im Verlauf von Prousts Arbeit an der Recherche hat die Figur der Albertine andere Figuren absorbiert. Sie ist außerdem die einzige Figur, deren Geschichte unvollendet blieb, unvollständig zum Zeitpunkt von Prousts Tod. Die umfangreichen Recherchen von Proust zu diesem scheinbar einfachen Namen stellen die Ursuppe dar, reich an Klängen und Bedeutungen, aus der sich die musikalischen Linien dieser Figur herausbilden.

Im Roman häufig wiederkehrende Wörter – Wörter, die von jedermann und jederzeit benutzt werden, wie Tod, Liebe, Eifersucht – behandelt Proust auf eine bestimmte Weise: Fortschreitend werden sie durch den Gebrauch erodiert und zerstört; sie werden zu Skeletten ohne wirkliche Bedeutung, zu Gegenständen, zurückgelassen entlang der komplizierten Straße proustscher Sprache. Sie bilden eine Art diachronen Sprachgeschehens, eine Geschichte des Wortes innerhalb des Romans, Überschneidungen unterschiedlicher paralleler Geschichten. Das Buch erscheint als eine stratifizierte Mine, in der Leser wertvolle Diamanten ausgraben können.

Außerdem interessant an Prousts Schreiben ist die Schilderung der "körperlichen" Seite der Sprache. Sein "Bericht" von Dialogen basiert stets auf der Beobachtung "mit unsichtbarer Tinte geschriebener Wörter", die in Ausdrücken, Gesten, Taten und kaum wahrnehmbaren unfreiwilligen Geräuschen, die von den verschiedenen Figuren geäußert werden, mitschwingen – oft im Gegensatz zu dem, was eigentlich gesagt wird.

Gestalt, Form, Verkörperung

Die formale Entwicklung des Stückes folgt den virtuellen Porträts Albertines, gezeichnet von den verschiedenen Zeugen, die dem Erzähler berichten. Am Anfang des Romans wird sie von dem Mann definiert; es geht um den Schmerz, den ihre Abwesenheit verursacht. Im zweiten Teil werden eher körperliche Dinge berichtet: Ihre natürliche Art, sich zu bewegen und mit ihren Freundinnen umzugehen, geschildert in dem Brief eines Dieners. Dieser Teil beruht viel stärker auf dem natürlichen Umgebungsklang, dessen Bestandteil Albertine ist. Die Stimme des Mannes kehrt im dritten Abschnitt zurück; Albertine wird als ein fehlender Teil seiner selbst beschrieben. Ihr Tod – ihre Art, sein Bild von ihr zu betrügen – verursacht eine Informationslücke. Eine tote Person spricht keine Worte mehr, das Spiel ist nur durch die Analyse erodierter kollektiver Erinnerungen möglich.

Albertine ist der Versuch, mit einer Solostimme eine Figur, ihre dramatische Dimension und ihre individuelle Geschichte, zu fassen. Wie in den madrigale rappresentativo der italienischen Renaissance ist die Dramaturgie einfach aufgebaut aus der Übereinstimmung zwischen Stimme und Figur. Diese extreme Reduktion des Musiktheaters auf seinen grundlegenden Kern ist ein Weg, die Möglichkeiten des Schreibens für Stimme zu erforschen und zu umreißen. In diesem "asketischen" Kontext kann die Beziehung zwischen Wort und Musik intensiviert werden, und die Virtuosität der Solistin kann bis ins Extrem ausgereizt werden. Prousts Versuch, hochdifferenzierte und unterschwellige Blicke und Gesten in Worte zu übersetzen, findet in der Partitur eine Parallele in dem Versuch, die unbewussten Klänge der Kommunikation zu transkribieren und zu kontrollieren. Das Vokale ist als expressive Verstärkung und Analyse der gesprochenen Sprache gedacht, die sich um ein exaktes Fassen der Spanne von Übergängen zwischen Sprechstimme und Singstimme bemüht und all dies in der Partitur genau festhält.

Das Komponieren von Albertine begann als Suche nach einer Solosängerin mit den spezifischen Charakteristika der Figur der Albertine: nach der weiblichen, jungen, sensiblen, flüchtigen und nicht zu entschlüsselnden Person, die durch Prousts zahlreiche Referenzen gezeichnet wird. Die Partitur wurde speziell für Anna Prohaska komponiert. Ihr Part ist dabei nicht nur in Bezug auf ihren Gesangsstil auf sie zugeschnitten, sondern darüber hinaus auf ihre bestimmte persönliche Präsenz als Künstlerin. Die utopische Intention war, ein so detailliertes vokales Porträt von ihr zu schaffen, dass auch eine andere Solistin ihre Anwesenheit heraufbeschwören würde. Sie soll Albertine eine Stimme verleihen, ihrer jungen Freundin, die sie heimlich während ihres Aufenthaltes auf dem Land kennengelernt hat, und außerdem den beiden grundlegenden Landschaften, in denen sie gelebt hat: dem Innen, dem marmornen Käfig der Wohnung, in der sie durch die Eifersucht des Mannes gefangen war, und dem Außen, dem freien, windigen und sonnigen Ufer des Sees. Claudia Doderer hat für Anna-Albertine ein Kostüm geschaffen, das den möglichen Kontakt zwischen diesen beiden Frauen und den Versuch, eine vorübergehende "Kon-Fusion" herzustellen, betont.

Dramaturgie

Im Part der Solostimme ist der französische Originaltext auf wenige Fragmente beschränkt, die in Variationen wiederholt werden, wie eine reduzierte und gedehnte Analyse Prousts lang angelegter Entwicklung und Erzeugung von Worten. Der Text von Proust, der als Klangmaterial für die Solostimme benutzt wird, wurde dann als "Hörbuch" wieder zusammengesetzt, erzählt von einer Gruppe von Vorlesern, die im Publikumsraum sitzen. Er wird auf Deutsch vorgetragen, der Sprache des Publikums, in der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens, so dass, zusammen mit dem Szenischen, die erste Erfahrung des Proust-Lesers wiedergegeben wird. Dies kann als das Überleben der Entwicklungsphase im fertigen Werk verstanden werden, aber auch als klangliche Rekonstruktion des tiefen Sees der proustschen Sprache, aus dem der Text der Solostimme geschöpft wurde. Die beiden Wirklichkeiten, das gesungene Französisch und das gesprochene Deutsch, laufen parallel und finden einige unerwartete Kontaktpunkte, die zu "Theater" werden, einfach weil ihr Zeitpunkt völlig überraschend ist. Die konzipierten "Treffen" zwischen der Solostimme und den Sprechstimmen zeigen in ihrem offensichtlichen Gegensatz den Schmerz angesichts des unmöglichen, obwohl zutiefst herbeigesehnten, Kontaktes zwischen dem Mann und Albertine, und sie beziehen sich auch auf den proustschen Pessimismus bezüglich des gezwungenen sozialen Spiels der Erscheinung in der Bourgeosie, eine dramaturgische Deklination des Konzeptes des "Andersseins".

Übs. Nina Rohlfs